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Wholesale 3.0: Unter diesem Motto trafen sich namhafte Verantwortliche aus Handel und Industrie in München. Der Anlass: die dringend benötigte Weichenstellung für ein profitableres Business auf beiden Seiten. Ein Kraftakt, der neue Allianzen und ein noch engeres Zusammenrücken erfordert.
Veröffentlicht am 25.10.2024
Wholesale 3.0: Unter diesem Motto trafen sich namhafte Verantwortliche aus Handel und Industrie in München. Der Anlass: die dringend benötigte Weichenstellung für ein profitableres Business auf beiden Seiten. Ein Kraftakt, der neue Allianzen und ein noch engeres Zusammenrücken erfordert.
Die Warnsignale sind nicht mehr zu überhören. Nachdem sich der Schock über die für viele überraschende Insolvenz von P&C Düsseldorf gelegt hatte, folgte vor wenigen Wochen der nächste große Knall: Breuninger steht zum Verkauf.
Die erste Reaktion in großen Teilen der Branche: Wenn selbst die Eigentümer eines als Leuchtturm geltenden Handelsformats nicht mehr an die Zukunft ihres Geschäftsmodells zu glauben scheinen, wer soll es dann noch tun? Aufhorchen ließ vor allem die kolportierte Diskrepanz zwischen der Immobilien- und der Handelsbewertung. Ist Handel so schwierig?
Während das Wholesale-Business stagniert und der Kampf um die so wichtigen Erträge angesichts stetig steigender Kosten und sinkender Frequenzen immer diffiziler wird, betreten neue Player wie Shein die Bühne. Mit ihrem Manufacturer to Consumer-Modell (M2C) revolutionieren sie das Geschäft mit Mode, vierstellige Zuwachsraten inklusive. Dann wäre da noch Inditex, nicht neu, aber weiterhin extrem dynamisch. Zara, Bershka & Co haben die Vertikalisierung aller Prozesse, von der Produktentwicklung bis hin zum Verkauf, längst auf einem neuen Niveau etabliert.
Der Druck auf das Establishment im Wholesale innerhalb der Marktmitte, er ist so hoch wie nie. Ausnahmen bestätigen die Regel. Hier wie da im Handel und der Industrie agieren auch Top-Performer. Doch sie allein sind nicht imstande, das Genre insgesamt zu stabilisieren. Sorgen um Marktakteure unterschiedlicher Provenienz mehren sich. Gleiches gilt für einen gesunden Wettbewerb, von dem alle, vor allem die Konsumenten, profitieren.
Umso wichtiger erscheint es, lange praktizierte Vorbehalte, die auf allen Seiten vorhanden sind, ad acta zu legen und das Zepter gemeinsam in die Hand zu nehmen. Damit das gelingen kann, trafen sich vergangene Woche auf Initiative der Unternehmensberatung hachmeister+partner (h + p), der TextilWirtschaft sowie Olsen-CEO Michael Simon und Digital-Experte Hans Peter Hiemer Verantwortliche aus verschiedenen Segmenten des Handels und der Industrie. Ihr Ziel: das Ausloten von Chancen und Potenzialen.
Herausgekommen sind erste konkrete Überlegungen zur Neudefinition und Weiterentwicklung des gemeinsamen Kooperationsmodells. "Lasst uns loslegen. Kein Zeitpunkt wäre besser", so die Losung der Initiatoren.
Die Ausgangssituation
Über allem thront die Frage, wie Handel und Industrie künftig gemeinsam mehr Geld erwirtschaften können – und das möglichst schnell. Denn die Kluft zwischen explodierenden Kosten auf der einen und stagnierenden Erträgen auf der anderen Seite reißt Löcher in die Bilanz. Klaus Harnack, Senior Partner bei h + p, macht klar: "Die Kosten laufen dem Handel davon. Diese Steigerungsrate ist seit 2019 etwa viermal so hoch wie die Zuwachsrate bei den Erträgen."
Weitere Zahlen aus dem Panel des Beratungsunternehmens unterstreichen die Brisanz. So ist seit dem Vor-Corona-Jahr 2019 die Frequenz durchschnittlich um 5% gesunken. Die Umsätze gingen um 8% zurück, die Stückzahlen um 22%. Dementsprechend fällt auch die LUG mit minus 11% deutlich geringer aus. Zwar erhöhten sich im selben Zeitraum dank eines vielerorts praktizierten Trading-ups die Durchschnittspreise um 18%, auch die erzielte Kalkulation stieg um 0,6%. Das könne laut Harnack jedoch gerade einmal die Inflation ausgleichen.
Dass dies nicht zwangsläufig einer zurückgehenden Lust auf Mode zuzuschreiben ist, verdeutlicht der Vergleich mit den bereits genannten Wettbewerbern. Während der Durchschnitt des h + p-Panels in den vergangenen vier Jahren nominal um gerade einmal 0,1% wachsen konnte, legte der Inditex-Konzern um 27% zu. Emporkömmling Shein gar um 1060%. Einer der teilnehmenden Händler zeigt sich angesichts dieser Entwicklung durchaus selbstkritisch und gibt zu Bedenken: "Dass immer mehr Kunden bei Plattformen wie Shein landen, haben wir uns teilweise selbst zuzuschreiben, weil wir Einstiegspreislagen zu radikal gekappt haben." Als Konsequenz habe er das Angebot im Preiseinstieg noch einmal auf den Prüfstand gestellt und punktuell wieder gestärkt. Eine weitere Stimme aus dem Handel bestätigt: "Ganz klar: Mit den Preissteigerungen verbinden sich signifikante Stückzahlenverluste."
Als zunehmendes Problem wird auf Handelsseite mangelnde Flächenproduktivität genannt. Das betrifft vor allem das Business des auf Schnelldreher angewiesenen Artikelbereichs. Signifikant ist hier die Lücke, die zwischen vertikalisierten und Daten getriebenen Marken á la Monari und Opus einerseits und klassischen Vororder- sowie NOS-getriebenen Herstellern auf der anderen Seite klafft. Eine LUG von 7 oder mehr sei in Hinblick auf Monari und Opus keine Seltenheit, berichten die Händler unisono. Dass sich die hohe Drehung entsprechend positiv auf die Profitabilität auswirke, müsse man nicht betonen. Mehr davon, das ist die Erwartung. Und das Ziel.
Netto-Rohertrag als neue Währung
Wie groß der Einfluss der LUG auf den ohne Zweifel entscheidenden Netto-Rohertrag pro Quadratmeter ist, veranschaulicht Harnack an einem simplen Rechenbeispiel: Einmal, indem er diesen mit der LUG eines durchschnittlich performenden Anbieters ausweist, und einmal mit der LUG eines Top-Performers. Obwohl die erzielte Kalkulation bei beiden Lieferanten nahezu identisch ist, ist der Unterschied beim Netto-Rohertrag pro Quadratmeter frappierend: Das Ergebnis ist beim Top-Performer mehr als doppelt so hoch. "Der Einfluss der erzielten Kalkulation wird häufig überschätzt, weil er nichts darüber aussagt, wie viel der Handel verdient. Die neue Währung ist der Netto-Rohertrag pro Quadratmeter", betont Harnack.
Zustimmung von Olsen-Chef Michael Simon, der ebenfalls zum Initiatorenkreis gehört und sehr detailreich aus eigenen Erfahrungen berichtet. "Es zeigt sich, dass die erzielte Kalkulation den geringsten Einfluss auf den Netto-Rohertrag hat. Deshalb sollten wir schleunigst aufhören, LUG und erzielte Kalkulation isoliert zu betrachten." Dass sich die Mechanik eines Opus oder Monari nicht so einfach adaptieren lässt und LUGs in dieser Größenordnung für viele Lieferanten unrealistisch erscheinen, darin sind sich Simon und die anderen Teilnehmer jedoch ebenfalls einig. Zumal, wenn es um Produktspezialisten geht, die von Haus aus aufgrund ihrer deutlich höheren NOS-Anteile mit anderen Drehungen erfolgreich arbeiten. Die Marschrichtung ist dennoch klar: Weniger Gerangel um Eingangsgarantien und voller Fokus auf den Rohertrag.
Wie das gelingen soll? Die Antwort liefert ein verbessertes, weil intensiveres und transparentes Miteinander von Handel und Industrie. In den Mittelpunkt rückt der Austausch von Daten, der vor allem das In-Season-Management verbessern soll. "Exzellenter Datenbestand ist das A und O", so der Tenor. Hier besteht aus Sicht aller der größte Hebel, um künftig ein effizienteres und letztendlich profitableres Business zu gestalten.
Neben der nötigen technischen Infrastruktur erfordere dies jedoch auch eine höhere Qualität und mehr Wissen im Umgang mit entscheidenden Kennziffern – sowohl im Einkauf des Handels, also auch im Vertrieb der Industrie. "Die betriebswirtschaftliche Kompetenz geht auf beiden Seiten immer mehr verloren", moniert ein Entscheider aus den Reihen der Industrie. Ein Partner aus dem Handel sieht gerade in Bezug auf das Miteinander Optimierungsbedarf und räumt ein: "Im Handel sind viele Einkäufer zu sehr von sich selbst überzeugt, das schadet dem Austausch mit den Lieferanten. Wir müssen lernen, mehr Transparenz zuzulassen und Verantwortung an Lieferanten abgeben zu können. Immer unter der Voraussetzung, dass das Ergebnis am Ende stimmt."
Neue Rollenverteilung
Die breite Zustimmung, auf die er damit am Tisch stößt, überrascht auf den ersten Blick. Sie macht aber einmal mehr deutlich, dass dem Wholesale eine Zeitenwende bevorsteht. Denn auch dank der sehr erfolgreichen vertikalen Vorreiter ist inzwischen klar, dass selbstständige Flächensteuerung durch die Industrie nicht automatisch mit zu viel Ware auf der Fläche, einer falschen Sortimentsstruktur oder einer ungeeigneten Artikelauswahl einhergehen muss. Vorbehalte, die laut Harnack in weiten Teilen des Handels immer noch verbreitet sind, wenn es um das Thema Flächenhoheit geht.
Den anwesenden Verantwortlichen des Handels scheint jedoch sehr wohl bewusst: Ohne direkten Zugriff der Industrie, kein spürbarer Fortschritt in puncto In-Season-Management. Dass dieser Vertrauensvorschuss eng mit der systemischen Exzellenz ihrer Lieferanten verbunden ist, versteht sich von selbst.
"Die Flächensteuerung durch die Industrie funktioniert dann, wenn die Individualität des Händlers berücksichtigt wird und nicht alle Handelsflächen mit der gleichen Ware bestückt werden", sagt einer. Nicht minder entscheidend sind verbindliche Garantien der Lieferanten, wie sie etwa das Olsen-Modell vorsieht. "Wir garantieren unseren Partnern eine erzielte Kalkulation von 60% und eine Abverkaufsquote von 95%", erklärt Simon.
Doch welche Rolle spielt künftig der Einkauf, wenn mehr und mehr Flächen von der Industrie gesteuert werden? "Das Berufsbild ändert sich: vom Waren-Rohertrags-Selektierer zum Waren-Rohertrags-Beschaffer auf der Fläche", sagt ein Händler. Dies würde bedeuten, dass sich Einkäufer in Zukunft deutlich weniger mit modischen Inhalten und dem klassischen Wareneinkauf befassen, sondern vielmehr mit dem Gesamtbild des Sortiments und der Performance-Auswertung einzelner Artikel. Daraus ergeben sich zwangsläufig Einsparpotenziale, etwa in Bezug auf Personalkosten – sie verkörpern den höchsten Fixkostenblock im Handel. Umso wichtiger wird dagegen der Einfluss von KI, die anstelle des Einkäufers dafür sorgen könnte, dass die individuelle Handschrift des jeweiligen Händlers bei der Flächenbestückung zur Geltung kommt.
Schneller, flexibler, profitabler
Ohnehin gelten Digitalisierung und der Einsatz von KI als Schlüssel für eine Optimierung des Geschäftsmodells Wholesale. Um die Potenziale, die sich daraus ergeben, jedoch bestmöglich schöpfen zu können, ist ein Mehr an Verantwortung für die Industrie unerlässlich. Denn während der Handlungsspielraum auf Seiten des Handels begrenzt ist, öffnen sich auf Lieferantenseite deutlich größere Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung. Der im Vergleich zu Playern wie Inditex und Shein exorbitant lange Zeitraum zwischen Produktentwicklung und Abverkauf wird von den Wholesale-Akteuren als größter Wettbewerbsnachteil ausgemacht. "Zwischen der Entwicklung und dem spätmöglichsten Abverkauf eines Produkts liegen im traditionellen Wholesale etwa 600 Tage", sagt Simon. Viele davon könnte man sich sparen, wenn erstens mehr KI und digitale Tools in der Supply Chain zum Einsatz kämen und zweitens mehr direkter Zugriff auf die Sortimente möglich wäre. Simon: "Die Industrie rechnet allein mit Vertriebskosten zwischen 7 und 15%. Wenn ich nur die Hälfte davon sparen könnte, würde das sofort ins Produkt fließen. Im Idealfall machen wir beide dadurch bessere Umsätze.
"Die Vorlaufzeiten des Wholesale passen nicht mehr in die Zeit, weiß auch Hans Peter Hiemer vom Technologie-Dienstleister Assyst. Anhand des Beispiels einer Shein-Kollektion zum Netflix-Hit The Wednesday Story legt er in den Finger in die Wunde: Als sich nach wenigen Tagen abzeichnete, dass die Streaming-Zahlen der Serie durch die Decke gingen, begann der chinesische M2C-Anbieter damit, eine Kapsel zur Serie zu entwickeln. Der Prozess vom Design bis hin zum Sell-out benötigte gerade einmal 21 Tage.
Diese Flexibilität, sich abzeichnende Trends zu antizipieren und möglichst schnell umzusetzen, wünschen sich auch die anwesenden Händler. Gerade, wenn es darum geht, für jüngere Zielgruppen attraktiv zu sein. Damit das gelingen kann, muss vor allem der langwierige Design- und Musterprozess infrage gestellt werden, aber eben auch die aufwendige Vermarktung. An digitalen CAD-Tools und 3D-Animationen in digitalisierten Showrooms dürfte deshalb auf kurz oder lang kein Weg mehr vorbeiführen. Nicht nur, weil sie die Time-to-market erheblich verkürzen, sondern weil sie signifikanten Einfluss auf die Kosten haben. "Vor allem Showrooms und Musterkollektionen treiben unsere Vertriebskosten", sagt Simon.
Selbst ein Hersteller, der die Qualität von 3D-Tools lange skeptisch sah, räumt ein: "Die digitalen Darstellungsmöglichkeiten haben mittlerweile ein akzeptables Niveau erreicht." Vorbehalte auf Seiten der Einkaufsentscheider – zumindest, was den Teilnehmerkreis betrifft – scheinen sich ebenfalls zunehmend in Luft aufzulösen.
"Bei vielen Marken brauchen wir, gerade wenn es um Schnelldreher-Teile geht, keine physischen Muster mehr. Wenn wir Kollektionen ab heute nur noch digital ordern könnten, würde sich am Sortiment nicht viel ändern", ist ein Händler überzeugt. Ein anderer schlägt fürs Erste eine Zwischenlösung vor. "Für den Anfang wäre es auf jeden Fall realistisch, wenn wir bei Schnelldrehern auf digitale Order umstellen."
Allianzen schmieden
Letztlich scheint nicht mehr die Frage zu sein, ob die Umstellung von analog auf digital kommt, sondern nur noch: wann? So ist ein Händler sicher: Je mehr Lieferanten das Vertrauen ihrer Handelspartner erhalten, desto größer sind die Einsparpotenziale, so die wesentliche Erkenntnis der Runde.
Große Übereinkunft auch in Sachen Offenheit und Transparenz. Für Egoismen sind die Zeiten zu hart. Das gilt sowohl für die Partnerschaft zwischen Handel und Industrie, als auch für den Austausch innerhalb der Industrie. Wettbewerb hin und Wettbewerb her: "Wir alle arbeiten letztendlich mit den selben Tools, bezahlen sie aber alle einzeln. Warum schließen wir uns nicht zusammen und entwickeln eine gemeinsame Lösung?", regt der Geschäftsführer eines Markenanbieters an. Zumal die Investitionen in Digitalisierung äußerst kostspielig sind und Insellösungen die ohnehin schon hohe Komplexität nur weiter erhöhen.
Darüber hinaus beschwören die Teilnehmer eine neues Wir-Gefühl. Besser gemeinsam als einsam. So wünscht sich einer aus dem Handel ein Konsortium aus verschiedenen Lieferanten als spezifischen Anlaufstelle für strategische Fragen. Im Gegenzug macht sich ein Hersteller dafür stark, gemeinsame Themen künftig häufiger in größerer Runde mit Vertretern des Handels zu erörtern. Auch ein Pendant zu den Erfa-Gruppen des Handels, das es in dieser Form und auf dieser Ebene in der Industrie nicht gibt, steht jetzt im Raum.
All das macht klar: Der Wille, das bestehende Kooperationsmodell auf eine neue Ebene zu führen, ist da. Und wird von allen als zwingend angesehen. Umso wichtiger erscheint es, nun bald in die Umsetzung zu kommen. Dafür brauche es das gesamte Segment, die Großen wie die Kleinen. Alle auf diese Reise mitzunehmen, dürfte die größte Herausforderung werden. Enger Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen bilden die dafür essenzielle Basis. Oder wie es Harnack abschließend formuliert: "Der Feind heißt Shein. Und der sitzt hier nicht am Tisch."
TextilWirtschaft, Sebastian Wolf: Wie können wir gemeinsam mehr verdienen? (Freitag, 18. Oktober 2024)
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